Von Martin Suchanek, Infomail 1282, 6. Mai 2025
Gruppe ArbeiterInnenmacht
Mit ungefähr sieben Stunden Verspätung ist Friedrich Merz im zweiten Anlauf zum Bundeskanzler gewählt worden. Dass es manchmal mehrere Versuche braucht, um ans gewünschte Ziel zu kommen, ist für ihn nichts Neues – schließlich brauchte er auch drei Anläufe, um sich den Posten als Parteivorsitzender der CDU zu sichern.
Dennoch kam es überraschend, dass er am 6. Mai im ersten Wahlgang bei der Kanzlerwahl scheiterte. 6 Stimmen fehlten zur notwendigen absoluten Mehrheit aller Abgeordneten im ersten Wahlgang. Insgesamt 18 Personen aus den Reihen der Koalitionsparteien stimmten gegen Merz, enthielten sich der Stimme oder nahmen an der Abstimmung nicht teil. Damit schreibt er ungewollt Geschichte – und ist nun der erste deutsche Bundeskanzler, der trotz erfolgreicher Koalitionsverhandlungen nicht direkt gewählt wird.
Doch das Ganze ist mehr als ein Fauxpas oder eine reine Wahlwiederholung. Es zeigt, dass die sogenannte Große Koalition bei weitem nicht so stabil ist, wie sie sich gerne schönredet.
Schuld und Motive
Dem CDU-Vorsitzenden, der sich selbst gern als starken Mann an der Spitze eines starken Deutschlands und Europas inszeniert, sowie den Koalitionspartnerinnen aus CDU, CSU und SPD hatte es die Sprache verschlagen. Stundenlang gab es keine öffentliche Stellungnahme, Unionsparteien und Sozialdemokratie wiesen sich unmittelbar nach der Abstimmung mehr oder weniger offen die Schuld am Desaster zu. Während CDU/CSU versichern, dass es in der DNA ihrer Abgeordneten liege, „für den eigenen Kandidaten zu stimmen – sei es mit der Faust in der Tasche“ –, und somit die fehlenden Stimmen den Sozialdemokrat:innen in die Schuhe schieben, wies die SPD-Fraktion dies zurück. Schließlich würden ihre Abgeordneten nicht nur den Koalitionsvertrag, sondern auch die große Mehrheit von 85 % beim Mitgliedervotum ihrer Partei respektieren – und sie sind es gewohnt, der Parteidisziplin zu folgen, auch wenn sie viele Kröten schlucken müssten.
Doch ganz offenkundig ist es mit der Koalitions- und Parteitreue nicht so weit her. Merz selbst hat in den Reihen der CDU seit Jahren viele Gegner:innen. Erst recht trifft das auf die SPD nach seinem (gescheiterten) Paktieren mit der AfD vor der Bundestagswahl zu. Es gibt sicher weit mehr als 18 Abgeordnete aus diesen Parteien, die ihm gern einen Denkzettel verpasst hätten – auch wenn wahrscheinlich viele der „Abweichler:innen“ darauf spekulierten, dass es auf ihre Stimme ohnehin nicht ankäme und Merz auch so auf seine Mehrheit kommen würde.
Die Inszenierung Merz’ als Kanzler, der aufräumt und den deutschen Imperialismus in Europa und der Welt mit starker Hand führen will, wurde jedoch konterkariert. Auch wenn die Motive der Abgeordneten zufällig oder politisch-persönlicher Natur gewesen sein mögen – es verdeutlicht, wie fragil das politische System der Bundesrepublik, wie eng die Basis der „Großen Koalition“ geworden ist.
In der zweiten, geheimen Abstimmung zum Amt des Bundeskanzlers bekam Merz dann 325 Ja-Stimmen – neun mehr, als die nötige Mehrheit von 316 verlangte, aber immer noch 3 Stimmen weniger, als wenn alle Abgeordneten der Großen Koalition für ihn gestimmt hätten, da diese insgesamt über 328 Sitze im Parlament verfügt.
Schadensbegrenzung
Die Reaktion der parlamentarischen Opposition fiel nach dem ersten Wahlgang scharf aus. Die AfD erklärt, dass Merz die Quittung dafür bekommen hätte, dass er einige seiner extremen rassistischen und neoliberalen Versprechen verraten und sich zur „Geisel“ der SPD gemacht hätte. Dementsprechend fordert sie den Rücktritt von Merz, Neuwahlen und einen „echten“ Rechtsruck – eine Koalition von Konservativen und AfD. Während die AfD als rechte Opposition agiert, sorgten sich die Grünen um eine Regierung, in der sie gar nicht vertreten wären. „Wenn sie das schon nicht hinbekommen haben, wie soll es dann werden?“, sorgt sich die ehemalige grüne Ministerin Künast. Schließlich, so die staatstragende Mitte, spiele Deutschland eine so wichtige Rolle, dass es ohne Regierung nicht weitergehen könne.
Ganz so viel Patriotismus mag Die Linke zwar nicht offen aufbringen, aber auch Ramelow gibt sich besorgt um den Parlamentarismus. Die Linke, so Ramelow gegenüber der FAZ, „werde Merz nicht wählen, aber ‚alles dafür tun, dass der Bundestag zu einer wahlfähigen Versammlung zusammentreten kann’, damit es bald eine neue Regierung gebe.“
Auch diese Reaktionen verdeutlichen selbst ein wesentliches Moment der politischen Krisenhaftigkeit in Deutschland. Während die AfD das Debakel der Koalition zu vertiefen versucht, um so ihrem erzreaktionären Ziel, einer rechten, nationalistischen, ultraliberalen und zugleich völkischen Politikwende, näher zu kommen, sorgen sich die Grünen, aber auch Die Linke, um das politische System des Kapitals.
Staatstragend
Bei den Grünen entspricht das voll ihrem eigenen Klassencharakter als Partei des grünen Imperialismus. Bei der Linkspartei offenbart sich ihre eigene innere Widersprüchlichkeit. Während der Leitantrag zum Bundesparteitag verspricht, Kurs auf die Schaffung einer Klassenpartei hin zu einer sozialistischen Mitgliederpartei zu nehmen, vermag und will sich offenbar nicht nur der Regierungssozialist Bodo Ramelow den Sorgen der bürgerlichen Klasse um ihr Parlament, um ihre politische Herrschaftsform, nicht verschließen. Da bleibt es ein schwacher Trost, dass Jan van Aken noch mal versichert, dass man sich nicht wünsche, dass Merz Kanzler wird – denn schließlich sei Heidi Reichinnek ja sowieso die beste Kanzlerin. Somit ist auch hier klar, dass der Parlamentarismus, die bürgerliche Demokratie – und damit auch das kapitalistische System – mal schön erhalten bleiben sollen. Und das, obwohl das Debakel um Merz nicht mehr als einen ersten, symbolträchtigen, politisch aber durchaus reparablen Betriebsunfall im Koalitionsgefüge darstellt.
Statt solche Plattitüden von sich zu geben, muss eine sozialistische Partei solche Momente nutzen, einordnen und eine Perspektive aufzeigen. In jedem Fall aber drückt die Episode um den ersten Wahlgang unbeabsichtigt die inneren tektonischen Verschiebungen, das Ringen um eine politische Strategie in der herrschenden Klasse und neuen Regierung aus. Die inneren Konflikte und das Scheitern von Merz im ersten Wahlgang verdeutlichen, dass die Regierung des Generalangriffs, der Militarisierung und Aufrüstung, der Abschiebungen und Angriffe auf demokratische Rechte keineswegs so fest im Sattel sitzt, wie sie es gerne hätte. Es liegt an uns, diese Schwäche, die heute letztlich nur symbolisch ist, zuzuspitzen und die Regierung durch den Widerstand auf der Straße und in den Betrieben zu Fall zu bringen!